Politische Rechte für Einwohner:innen der Schweiz ohne Schweizer Pass

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Politische Rechte für Einwohner:innen der Schweiz ohne Schweizer Pass

An der Fischhof-Preisverleihung 2021 hat der Preisträger Lukas Bärfuss dafür plädiert, dass wir den Artikel 8 der Bundesverfassung ernst nehmen sollen: «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebens­form, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.»

Der Artikel 8 äussert sich zudem zur Geschlechtergerechtigkeit: «Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tat­sächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.»

An der Frauensession vom 29./30. Oktober gab es nebst vielen Vorstössen, die die Geschlechterdiskriminierung zum Thema hatten, einen Vorstoss, der aus dem Rahmen fiel: er nahm die Diskriminierung auf Grund der Herkunft in den Fokus und stellte diese in einen Zusammenhang mit dem langen Ausschluss der Frauen von den politischen Rechten. Er verlangt, dass alle Personen ohne Schweizerpass, die seit 5 Jahren in der Schweiz leben, auf Bundesebene das aktive und passive Wahlrecht erhalten.

Die vorbereitende Kommission begründete das Anliegen mit der Lehre aus der Geschichte und knüpfte an den Kampf der Frauen für das Frauenstimmrecht an. Vor 50 Jahren wurde den Frauen nach zahlreichen Anläufen endlich das Stimm- und Wahlrecht verliehen. Damit nahm der politische Ausschluss der weiblichen Schweizer Bevölkerung ein Ende. Eine grosse Diskriminierung und ein grosses Demokratiedefizit waren behoben.

Wie sieht es heute aus? Es gibt wieder viele von der Demokratie Ausgeschlossene. Es sind die über zwei Millionen Einwohner:innen der Schweiz ohne Schweizer Pass. Der Ausschluss dieses Viertels der Bevölkerung von den demokratischen Prozessen gefährdet langfristig die demokratische Ordnung, weil immer grösser werdende Bevölkerungsteile von der politischen Teilhabe ausgeschlossen sind.

Viele der Personen ohne Schweizer Pass sind hier geboren und aufgewachsen, andere leben seit vielen Jahren hier: 1.6 Millionen länger als fünf Jahre, 1.1 Millionen länger als zehn Jahre, 580 000 Personen seit mehr als 20 Jahren. Diese Zahlen sind auch ein Abbild davon, wie schwer es die Schweiz den Migrant:innen mit der Einbürgerung macht. Es gibt keine Verleihung der Staatsangehörigkeit auf Grund des Geburtsortes. Selbst Angehörige der dritten Generation müssen sich immer noch einem Einbürgerungsverfahren unterziehen, das zwar als erleichtert bezeichnet wird, aber immer noch grosse Hürden aufweist. Viele Einwohner:innen der Schweiz ohne Schweizerpass besuchten hier die Schulen, arbeiten hier und unterstehen der schweizerischen Gesetzgebung, ihre Familien und ihr Freund:innenkreis sind hier. Nur eines unterscheidet sie von Schweizer:innen: sie können nicht mitbestimmen, wie das Land, in dem sie leben, politisch gestaltet wird. Obwohl sie von allen politischen Entscheiden betroffen sind, haben sie keine Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen. In Kreuzlingen und Spreitenbach hat heute bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung keine Schweizer Staatsbürgerschaft. In Schweizer Städten verfügen insgesamt durchschnittlich 34% der Einwohner:innen über keinen Schweizer Pass und somit über keine demokratische Mitsprache. Das sei schlecht für die Betroffenen, das sei schlecht für die Demokratie und erinnere ungut an die Situation der Schweizer Frauen vor 1971, argumentierte die Kommission. Mit der Erteilung politischer Rechte an diesen Viertel der Bevölkerung unseres Landes würde die Schweizerische Demokratie wieder um ein grosses Stück vervollständigt, wie es damals vor 50 Jahren mit der Einführung des Frauenstimmrechts geschehen sei.

Diese Argumentation vermochte die Teilnehmerinnen der Frauensession zu überzeugen. Mit überwältigender Mehrheit stimmten sie dem Vorstoss zu. Dieser geht jetzt als Petition an die Eidgenössischen Räte und muss dort behandelt werden. Wie die Geschichte für das Frauenstimmrecht lehrt, braucht es dafür wahrscheinlich mehrere Anläufe, aber steter Tropfen höhlt den Stein!       

  1. November 2021

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