Interview mit fair unterwegs

| erschienen auf www.fairunterwegs.org

Als die Schweiz ein Auswanderungsland war

Cécile Bühlmann hat sich als Beauftragte für Interkulturelle Pädagogik lange mit der Integration von AusländerInnen befasst. Während 15 Jahren, engagierte sie sich als Nationalrätin der Grünen, zwölf davon als Fraktionschefin. Seit ihrem Rücktritt aus dem Nationalrat im Jahr 2005 ist sie Geschäftsleiterin des Christlichen Friedensdienstes (cfd) in Bern. Sie engagiert sich für Menschenrechte von Frauen und von Minderheiten, für Demokratie und Rechtsstaat und für die Umwelt. Mit ihrer Lektüre entführt sie uns auf eine historische Reise in Zeiten, als die Schweiz ein Auswanderungsland war.

Welches Buch führt dich auf die intensivste Reise?

Es gibt ein Buch, das mich unglaublich beeindruckt hat, weil es ein Kapitel Schweizer Geschichte beleuchtete, das ich in der Schule nie gelernt hatte: «Ibicaba – Das Paradies in den Köpfen», von Eveline Hasler, erschienen 1985. Eveline Hasler hat die Geschichte von 265 Auswanderern aus dem Bündnerland recherchiert, die 1855 nach Ibicaba in Brasilien auswanderten. Deren Beweggrund war Armut. Wie den heutigen MigrantInnen wurde auch ihnen das Paradies versprochen: eine eigene Blockhütte unter Palmen, eine sichere bezahlte Arbeit und vieles mehr. Und wie heute mussten sie damals für die Schiffspassage eine Riesensumme zahlen, die sie innert kurzer Zeit zurückzahlen mussten. Sie waren Spielball eines Migrationsbusiness, bei der auch die Auswanderer-Zeitschrift «Kolonist» eine Rolle spielte. Diese malte das Paradies auf dem anderen Kontinent in kühnsten Farben aus und lockte damit Auswanderungswillige an.

Die Schifffahrt war bereits eine Tortur, und danach begann ein miserables Leben auf den Plantagen von Ibicaba. Brasilien hatte gerade die Sklaverei abgeschafft, und die AuswandererInnen aus der Schweiz wurden jetzt an deren Stelle gebraucht. Sie wurden richtiggehend ausgebeutet, unter anderem mussten sie die Lebensmittel im einzigen Laden der Plantage zu überteuerten Preisen kaufen. Statt das Geld für die Überfahrt zurückzahlen zu können, häuften sich so die Schulden an. Anführer der Gruppe war der Lehrer Thomas Davatz. Er wehrte sich gegen die ungerechten Verhältnisse und wurde deswegen vom Plantagenbesitzer Vergueiro geächtet und zur Rückkehr gezwungen. Er berichtete in der Schweiz vom Elend in Ibicaba. So haben wir überhaupt diese Geschichte erfahren und Eveline Hasler hat die Aufzeichnungen von Davatz gefunden und konnte dieses Buch schreiben.

Was hat dich an diesem Buch besonders fasziniert?

Eveline Haslers Stärke ist es, die Geschichte erlebbar zu machen. Ich habe das Buch immer wieder in meinen Kursen der interkulturellen Pädagogik empfohlen. Es ist für mich ein wichtiges Buch, um ein Stück Schweizer Geschichte zu kennen, die nicht heldenhaft ist. So erfährt man, dass die Schweiz nicht immer die reiche Nation gewesen ist, in die alle einwandern wollen. Es wird ja gern verdrängt, dass wir über Jahrhunderte eine Auswanderernation waren, erst Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich die Bilanz gekehrt und wir wurden zum Einwanderungsland.

Das hatte auch mit der Einwandererpolitik zu tun.

Ja, mit dem wirtschaftlichen Aufschwung stieg der Bedarf an Arbeitskräften. Zu Anfang des Jahrhunderts wurde eine offene Einwanderungspolitik betrieben. Nach nur zwei Jahren wurden die MigrantInnen eingebürgert. Es war eine ganz andere Politik als heute. Man ging davon aus, dass die Einwanderer, wenn sie einmal Schweizer geworden sind, loyal zum Land stehen. Heute werden von den MigrantInnen eine Menge Vorleistungen verlangt und die Einbürgerungsfrist dauert mindestens 12 Jahre. Die Grenzen Europas werden für viele Einwanderungswillige zum Grab, wie vor Kurzem vor Lampedusa. Zu einer Lösung dieser Flüchtlingsmisere hat aber das Erschrecken über das Bootsunglück nicht geführt.

Lampedusa ist ein Brennpunkt für die Schere zwischen Reich und Arm. Viele junge Menschen in Ländern des Südens haben von Geburt weg keine Chance auf ein menschenwürdiges Leben. Diesem Schicksal versuchen sie zu entfliehen. Was sie bei uns suchen sind Perspektiven für ein Leben in Würde. Solange wir es nicht zustande bringen, weltweit gerechtere Verhältnisse zu schaffen, wird sich die Situation kaum ändern. In Lampedusa wird dieses verdrängte Kapitel sichtbar. Was ich nicht verstehen kann, ist, dass sich viele Leute hier bei uns nicht in die Situation der MigrantInnen einfühlen können, dieser eklatante Mangel an Empathie! Es sind ja die veränderungswilligen, ehrgeizigen, innovativen Leute, die auf der Suche nach einem besseren Leben auswandern. Sie haben alle Eigenschaften, die bei uns hoch im Kurs sind und hier will sie niemand! Herrschte in meinem Land Krieg und Elend, würde ich meine Zukunft auch woanders aufzubauen versuchen und würde mir auch ein Land aussuchen, dem es gut geht. Ich kann nicht verstehen, wie diese Menschen hier als Profiteure und Kriminelle verunglimpft werden. Dass man sie in irgendwelche abgeschottete Zentren bringt oder brutal zurückweist, ist ein Verbrechen an dieser jungen Generation, furchtbar!

Hat dieses Engagement für MigrantInnen mit deiner eigenen Identität zu tun?

Ich war immer eine kritische Bürgerin, oft in Opposition zur Mehrheit. Ich habe vieles kritisiert, was die Schweiz tut: das Bankgeheimnis, die Fluchtgelder von Diktatoren, für die wir das sichere Versteck boten. Ich wollte solche Dinge verändern, deshalb bin ich Politikerin geworden. Natürlich profitiere ich als Schweizerin auch von den Privilegien, die wir uns in der Schweiz durch Ausbeutung, Begünstigung von Steuerhinterziehung und Wegschauen geschaffen haben. Ich habe mich aber nie nur als Schweizerin definiert, sondern als Bewohnerin des einen Planeten, zudem wir gemeinsam Sorge tragen sollten. Vielleicht hat mein Blick über den Schweizer Tellerrand auch damit zu tun, dass ich aus einer bikulturellen Ehe stamme – meine Mutter war Italienerin. Sie wurde deswegen in ihrer Kindheit in der Schweiz miserabel behandelt.

Was meinst du mit «miserabel behandelt»?

Sie wurde ausgegrenzt, ausgelacht und als «Tschingg» beschimpft und diskriminiert. Ihre Geschichte hat bei mir viel ausgelöst und mein Menschenbild nachhaltig geprägt. Ich gehe von der Gleichwertigkeit aller Menschen aus. Ich kann nicht verstehen, wie man andere auf Grund ihrer Hautfarbe oder einer anderen nationalen Zugehörigkeit ausgrenzen kann. Das Denken in weiss-schwarz oder einheimisch-fremd-Kategorien ist mir fremd.

Aber du hast dich schon mit der Schweiz identifiziert?

Ich habe mich immer als Schweizerin verstanden, hatte auch immer die Schweizer Staatsbürgerschaft. Aber mein Interesse galt nie nur der Schweiz. Mein Engagement ist ausgerichtet auf die globalen Zusammenhänge, entlang des Gedankens von «Global denken, lokal handeln». Ich kann nie nur das Interesse der Schweiz unabhängig vom Interesse der anderen auf diesem Globus vertreten. Es ist daher kein Zufall, dass ich bei den Grünen politisiere.

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Es ist die offene lernbereite Haltung, mit der ich in die Welt gehe. Viele Leute besuchen Slums von Bombay oder Rio und bestätigen sich dort ihre Vorurteile: «Die sind unterentwickelt in Indien, weil sie so faul sind». Solche Reisende holen sich über die Reise zu den Armen die Bestätigung, dass sie und die Schweiz besser sind. Reisen heisst für mich, Zusammenhänge begreifen, lernen, fragen, hinter die Fassaden schauen. Ich hatte das Glück, als Politikerin auf Parlamentarierreisen, organisiert von Hilfswerken, das tun zu können. Das war nicht einfach Tourismus zu schönen Stränden oder in Hotels. Wir lernten zum Beispiel Wasserprojekte von Helvetas in Kamerun, oder soziale Projekt von Caritas und Fastenopfer in Südafrika kennen. Wir wurden vorher vom EDA gebrieft. Wir setzten uns intensiv mit dem Land auseinander. Es waren eher strapaziöse Reisen, dafür konnten wir hinter die Kulissen schauen. Das Ziel solcher Reisen war die Sensibilisierung für die Schweizer Entwicklungspolitik damit wir, wenn es im Nationalrat um Kredite für die Entwicklungszusammenarbeit ging, überzeugt dafür einstehen konnten. Einen nicht touristischen Blick auf viele Länder konnte ich auch im Rahmen der Besuche bei den cfd-Partnerorganisationen werfen. Ich habe dabei enorm viel vom Alltag der Leute und der Politik der Länder, in denen wir tätig sind, erfahren. Zurzeit ist der cfd in Israel und Palästina, in Algerien und Marokko und in Bosnien-Herzegowina und Kosovo tätig. Hauptfokus der cfd-Arbeit ist das Empowerment von Frauen.

Und wenn du nicht beruflich unterwegs bist?

Mindestens einmal pro Jahr mache ich drei Wochen Ferien am Stücke, dann verreise ich am liebsten mit dem Velo. Meine Lieblingsferien sind die mit Velo und Satteltasche einem Fluss entlang: dem Po, oder der Drau in Kärnten, dem Rhein, der Rhone, dem Inn, der Donau bis Budapest. Entlang dieser Flussläufe gibt es schöne Kulturlandschaften mit attraktiven Städten und Städtchen. Der Velotourismus wird in Deutschland und Österreich sehr gefördert. Ich fühle mich als Velofahrerin überall willkommen, ich richte mit dieser Art der Fortbewegung keinen Schaden an. Es muss nicht extra eine teure touristische Infrastruktur gebaut werden. Es wird alles von der dort lebenden Bevölkerung mitbenutzt. Das gibt mir ein gutes Gefühl.

Ich gehe auch sehr gerne in die Berge zum Wandern, im Winter auch mit Schneeschuhen. Das ist für mich Vergnügen und Erholung pur. Obwohl ich jetzt schon viele Jahrzehnte in der Schweiz und in Europa unterwegs bin, entdecke ich immer noch neue Orte und Landschaften. Europa mit seiner Kleinräumigkeit bietet fantastische Möglichkeiten zum Ferien machen.

Bei den wenigen Reisen, die ich als Touristin in ferne Länder unternommen habe, fühlte ich mich in den extra für TouristInnen geschaffenen Infrastrukturen nicht sehr wohl. Am krassesten empfand ich das in Indien. Ich reiste in einem gut ausgestatteten Bus mit Klimaanlage komfortabel an den mit Menschen vollgestopften überladenen öffentlichen Bussen vorbei. So etwas halte ich nicht gut aus. Ich hatte Identitätsprobleme, kam mir im Verhältnis zu den Einheimischen wie eine reiche Oberprivilegierte vor. Das verdarb mir die Ferienfreude, ich konnte die Reise nicht richtig geniessen.

Du wirst dieses Jahr als Geschäftsleiterin des cfd pensioniert. Was sind deine Pläne für danach?

Es gibt ein paar Themen, die mir wichtig sind und an denen ich weiter dranbleiben will: Ökologie, Menschenrechte, der Rechtsstaat, Demokratiefragen sowie das Engagement für Frauen. Ich bleibe weiter Präsidentin des Stiftungsrates von Greenpeace und kümmere mich als Vizepräsidentin der Gesellschaft Minderheiten Schweiz und als Mitglied der Arbeitsgruppe Migration der Grünen weiter um menschenrechtliche Themen. Meine kulturellen Interessen verbinde ich mit dem Vizepräsidium des Patronatskomitees KleinKunst Schweiz. Ein weiterer Schwerpunkt ist der Club Helvetique, ein Thinkthank, in dem es darum geht, dass die Schweizer Demokratie mehr sein muss als ein Diktat der Mehrheit, es geht also um die Einhaltung der Verfassung und um den Rechtsstaat.

Das klingt sehr nach Unruhestand

Bisher war ich 80 Prozent bei cfd angestellt und hatte zusätzlich schon die aufgezählten Engagements. Diese kann ich jetzt mit mehr Musse weiterführen und das eine oder andere kommt sicher noch dazu. Mein Wunsch wäre, dass ich zwei bis drei Tage pro Woche für Engagements einsetze. Und den Rest der Zeit möchte ich mit wandern, velofahren, Kulturkonsum, lesen und mit Leuten aus meinem grossen Freundeskreis verbringen. Ab und zu möchte ich auch eine grössere Reise unternehmen. Meine Tätigkeiten bei cfd und Greenpeace haben es mit sich gebracht, dass ich viele gute Kontakte über die Welt verstreut habe. Ab und zu möchte ich einige dieser Menschen besuchen.

Sind die vielen Flugreisen der eigenen Organisation ein Thema bei Greenpeace?

Es gibt immer wieder Diskussionen deswegen. Und man versuchte, immer mehr Meetings über Skype und Videokonferenzen zu halten. Aber es ist wichtig, die Leute auch ab und zu persönlich zu treffen. Es ist nur mässig attraktiv über Skype und Video zu verhandeln. Es ist eine Notlösung, aber es ist gut, dass es diese Mittel gibt, gerade weil Greenpeace global immer vernetzter arbeitet.

Da fragt sich schon: Wie viel Globalisierung verträgt die Erde?

Nun, ich denke, dass die NGO-Kontakte den geringeren Anteil zu den internationalen Flugreisen beisteuern und dass der grössere Teil zum Vergnügen geflogen wird. Ausserdem sind immer mehr Menschen über ihre Arbeit oder ihre Ausbildung global vernetzt. So wird mehr geflogen. Umso wichtiger ist es, dass die Reisenden lokale Unternehmen berücksichtigen und nicht Hotelketten, bei denen das Geld ins Ausland abfliesst. Dass sie Infrastrukturen nutzen, die auch der Lokalbevölkerung zugutekommen und Angebote buchen, bei denen der Bevölkerung das Wasser nicht abgegraben wird. In einem armen Land sollte man zudem auf übermässigen Luxus verzichten, um das soziale Gefälle nicht zu vergrössern.

Das Reiseportal fairunterwegs will ja die Reisenden für einen anderen Reisestil gewinnen. Was hältst du davon?

Es ist wichtig, die Verhaltensänderung anzuregen. Das ist ganz in meinem Sinn! Und es wäre euch zu wünschen, dass ihr die Mehrheit erreicht. Wer in ein anderes Land reisen kann, soll zumindest darauf achten, dass der Tourismus die Infrastruktur auch für die Lokalbevölkerung fördert, dass faire Preise gezahlt werden und dass die Lokalbevölkerung durch den Tourismus in der Entwicklung nicht behindert wird.

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