Interview Anzeiger Luzern

| Interview im Anzeiger Luzern

«Ich bin noch nicht zufrieden»

Cécile Bühlmann, können Sie sich an den Moment erinnern, als vor 50 Jahren das Frauenstimmrecht in Luzern an der Urne angenommen wurde?
Nein, ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr daran erinnern. Als 21-Jährige haben mich damals noch andere Themen beschäftigt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meinen Schwerpunkt mehr im Beruf als im politischen Engagement. Ich kann mich aber sehr gut an die Abstimmung zur Schwarzenbach-Initiative 1970 erinnern. Da wurde mir zum ersten Mal mit Schrecken bewusst, dass ich als Frau nicht mitreden darf. Das hat mich sehr geärgert. Ende der Siebzigerjahre habe ich mich dann der Ofra, einer wichtigen Organisation der neuen Frauenbewegung, angeschlossen.

Welche Ziele verfolgte die Bewegung?
Ofra stand für «Organisation für Sachen der Frauen». Die Bewegung war genau das, was ich gesucht hatte: Da wurde mein Unbehagen zur Stellung der Frau in der Schweiz zum Thema gemacht. Mit der Einführung des Frauenstimmrechts hatte sich ja an der realen Ungleichstellung nämlich noch nichts geändert. Es bestand immer noch das alte Eherecht, das Männer dazu befugte, ihren Frauen die Erwerbstätigkeit zu verbieten. Auch Gewalt an Frauen war Privatsache und konnte nicht vor Gericht gestellt werden. Es gab weder eine Mutterschaftsversicherung noch ein Gleichstellungsgesetz, das Frauen den gleichen Lohn zusprach. Dies alles machte die Ofra zum Thema. Mit ihr hatte ich meine politische Heimat gefunden.

Wie erleben Sie die Frauenbewegungen heutzutage und gibt es Unterschiede zu früheren Jahren?
Es freut mich sehr, dass es heute wieder eine so bewegte Frauenszene gibt. Ein Unterschied zu früher besteht darin, dass heute auch Männer mitmachen können. Bei uns wäre dies undenkbar gewesen – die Männer wären hochkant hinausgeworfen worden (lacht). Heute wird die Gleichstellung vielmehr als Gemeinschaftsprojekt junger Menschen angesehen.

Braucht es in der Schweiz überhaupt noch Frauenbewegungen? Oder haben wir die Gleichstellung nicht längst erreicht?
In der Gesetzgebung haben wir viel erreicht. Aber es ist noch nicht alles umgesetzt. Aufgrund von Lohnunterschieden werden den Frauen heute beispielsweise bis zu 110 Milliarden Franken jährlich vorenthalten. Frauen übernehmen immer noch den grössten Teil von unbezahlter Care-Arbeit. Und auch die sexuelle Gewalt ist nach wie vor ein grosses Thema. Wenn Sie mich fragen: Ich bin noch nicht zufrieden. Und ich freue mich, dass dieser Kampf weitergeführt wird. Es ist extrem toll, dass junge Frauen wie am Frauenstreik im Juni 2019 wieder auf die Strasse gehen. Dies war nicht immer so. Anfang 2000 wurden Feministinnen eher ins Lächerliche gezogen. Zum Glück hat sich das wieder geändert.

Wie kam es zu diesem Wandel?
Bei der jungen Generation lässt sich zurzeit eine generelle Politisierung beobachten. Sie will sich nicht mehr alles gefallen lassen. Es findet dabei ein sehr ganzheitliches Denken statt: Man setzt sich nicht nur für eine Sache ein, sondern für mehrere Themen zugleich. Bewegungen gegen den Klimawandel und Rassismus und für mehr Gleichstellung gehen Hand in Hand. Gerade in der Klimabewegung spielen auch viele Frauen eine wichtige Rolle, wie man am Beispiel von Greta sieht. Dies hat sicher auch dazu geführt, dass die Gleichstellung der Frauen wieder mehr in den Fokus gerückt ist. Und nicht zu vergessen ist natürlich die Wirkung von Social Media. Die moderne Technik ermöglicht Bewegungen um die ganze Welt, wie die «me too»-Debatte eindrücklich zeigt.

Es gibt auch Stimmen von Frauen, die sich bereits genug gleichgestellt fühlen. Wie erklären Sie sich diese unterschiedliche Wahrnehmung?
Den grossen Knackpunkt im Leben einer Frau sehe ich bei der Familiengründung. Obwohl heute sehr viele Frauen die Uni machen, stecken sie zurück, sobald Kinder da sind. Die Mehrheit nimmt den Namen ihres Mannes an und übernimmt zum grossen Teil die Kinderbetreuung. Letzteres löst eine Kette von Benachteiligungen aus, die sich bis ins hohe Alter zieht und dazu führt, dass Frauen wirtschaftlich und beruflich immer schlechter dastehen. Ist eine Frau einmal ein paar Jahre weg vom Beruf, ist es sehr schwierig, wieder Fuss zu fassen. Diese langfristige Rechnung machen viele junge Frauen nicht. Diejenigen die sagen, dass sie gleichberechtigt sind, haben diese Erfahrung meist noch nicht gemacht. Sie stehen am Anfang ihres beruflichen Weges und meinen, die Welt steht ihnen offen. Und das tut sie auch. Aber das ändert sich eben, sobald Kinder kommen.

Was müsste sich ändern, damit wir die Gleichstellung von Mann und Frau erreichen?
In den Gesetzen ist wie gesagt bereits viel festgehalten. Es ist aber noch nicht in allen Köpfen angekommen. Die alten Rollen wirken nach wie vor weiter. Deshalb braucht es primär ein Umdenken. Nur durch ein verändertes Rollenverständnis können wir eine gleichberechtigte Gesellschaft werden. Das Ja zum Vaterschaftsurlaub ist ein klares Zeichen, dass ein solches Umdenken stattfindet. Ich bin sehr zuversichtlich – es braucht einfach länger, als ich gedacht habe. Aber der Trend ist unaufhaltsam. Zu viele Frauen haben erlebt, was es heisst, die gleichen Rechte wie die Männer zu haben. Das geben sie nicht mehr einfach auf.

Gibt es auch Bereiche, in denen Männer benachteiligt sind?
Ja, sie müssen beispielsweise ins Militär. Meiner Meinung nach müsste dies für sie auch freiwillig sein. Ich finde es auch nicht gut, dass Männer nach wie vor das Bild vom «starken Geschlecht» erfüllen müssen, keine Gefühle zeigen sollen und meinen, die ganze Last des Familienunterhalts liege auf ihnen. Die Frauen wären doch längst parat und in der Lage, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen.

Aktuell feiern wir 50 Jahre Frauenstimmrecht in Luzern. Wo denken Sie, stehen wir in 50 Jahren?
Dann sind wir am Punkt angelangt, an dem Frauen und Männer sich alle Aufgaben gleichberechtigt teilen. Ich hoffe natürlich, dass das schon früher der Fall sein wird – aber bis 2070 haben wir es sicherlich geschafft.

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