Kolumne 60plus: Unwörter

| Kolumne erschienen auf der Website von Luzern60plus

«Überalterung» und «Überfremdung» sind Unwörter

Soeben ist ein Buch herausgekommen, das mit dem provokativen Titel «Une Suisse à 10 millions d’habitants» darauf anspielt, dass wir uns in Bälde eine Schweiz nicht nur mit 8 sondern sogar mit 10 Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern vorstellen müssen. Die NZZ berichtete über das Buch unter dem fast weihnächtlichen Titel: «Ihr Kinderlein kommt». Eines der im Buch beschriebenen Szenarien geht davon aus, dass im Jahr 2039 die 10-Millionen-Grenze überschritten werden könnte. Hauptursache dafür sei nicht ein Geburtenüberschuss wie es in den vergangenen Wachstumsphasen der Fall war, sondern die Einwanderung. Diese Tatsache ist für den Autor Philippe Wanner das kleinere Problem als die Alternative: eine extreme Überalterung der Gesellschaft. So beschreibt es wortwörtlich der Kommentator in der NZZ. Und die subkutane Botschaft lautet: Wir haben die Wahl zwischen zwei Übeln. Entweder es wird zu viele Alte oder zu viele Fremde geben, entweder Überalterung oder Überfremdung!

Mir fällt seit einiger Zeit auf, wie häufig mit dem Begriff «Überalterung» hantiert wird, wenn es um die Demografie in der Schweiz geht. Immer wenn darüber berichtet wird, dass die Schweizer Bevölkerung wächst und dass sie immer älter wird, taucht der Begriff «Überalterung» auf. Ich weiss nicht, wer dieses Unwort erfunden hat, aber nach meinem Sprachempfinden drückt es nicht einfach die Zustandsbeschreibung aus, dass wir in der Schweiz immer älter werden, sondern es nimmt Partei: es gibt zu viel Alte und das ist ganz schlecht! Ich verstehe nicht, wie gescheite Leute dieses Wort problemlos über die Lippen bringen. Das muss doch zu denken geben und Widerspruch auslösen.

Ich beklage seit längerem, dass wir in einer Zeit leben, in der alles durchgerechnet und durchökonomisiert wird. Das gilt für das Gesundheitswesen, für die öffentlichen Verwaltungen und genauso für die Betreuung betagter Menschen. Jeder Handgriff, jede Unterstützung wird nach Punkten berechnet und verrechnet. In dieser Logik ist es klar, dass alte Menschen nicht mehr rentieren und deshalb für unsere Gesellschaft ein Problem sind. Das genau drückt der Begriff Überalterung aus. Wer diese gesellschaftliche Entwicklung auch nicht gut findet, solle den Begriff «Überalterung» aus seinem Vokabular streichen!

Genauso wie wir es mit dem Begriff der Überfremdung schon lange tun. Dass dieser nicht unpolitisch ist, wissen wir. Er gehört zum Repertoire fremdenfeindlicher Parteien und wird ganz gezielt eingesetzt, wenn die Botschaft, dass wir zu viele Ausländer im Lande haben, wieder einmal unters Volk gebracht werden muss. Deshalb vermeiden ihn all jene, die nicht als fremdenfeindlich gelten wollen. Er wird in fortschrittlichen, nicht xenophoben Milieus geächtet.

So etwas müsste doch auch mit dem Begriff der Überalterung möglich sein. Wenn er doch die Botschaft vermittelt, dass es zu viele Alte gebe und dass dies ein Problem sei, gehört der Begriff für alle, die diese Einschätzung nicht teilen, geächtet. Das könnte doch ein Vorsatz fürs Neue Jahr sein. Er kostet nichts und trägt etwas zur Sorgfalt im Umgang mit unserer Sprache bei. Und dass Sprache das Denken prägt und umgekehrt ist spätestens seit Frauen deswegen eine geschlechtergerechte Sprache gefordert haben, allgemein bekannt.

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