Kolumne 60plus: Demografie

| Kolumne erschienen auf der Website von Luzern60plus

Demagogie mit der Demografie

Kürzlich erschien im «Tages-Anzeiger» ein Beitrag, der mir kurz die Sprache verschlug: «Vergreisung – In der Schweiz ist eine Politik auf Kosten der Alten unmöglich geworden. Die Jungen lassen es sich gefallen – noch.» Mit diesem reisserischen Intro begann der Tagi-Journalist Linus Schöpfer seine Tirade gegen die Überalterung, die ein Kernproblem der Schweiz sei, wenn nicht sein ärgstes überhaupt. Überalterung war nicht etwa in Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt, der junge Journalist meinte es tatsächlich so. Sein ganzer Text war eine Ressentiment geladene Abrechnung mit uns Alten. Wir sind schuld an der Betulichkeit, wir machen es der Schweiz schwer, in der digitalen Ära zu brillieren. Und die Jungen halten sich zurück, geben sich kulant und sehen sich durch die Vergreisung – auch nicht in Anführungszeichen – nicht zum Handeln veranlasst. Spätestens wenn das Rentensystem dann crashen sollte, müssten sie sich jedoch der heiklen Frage stellen, ob ihnen die Schweiz als Altersheim tatsächlich genüge.

Offenbar hat der alarmistische und tendenziöse Artikel so heftige Reaktionen ausgelöst, dass am folgenden Tag ein relativierender Text eines andern Tagi-Journalisten nachgeliefert wurde, welcher das Alten-Bashing als unbegründet hinstellte und sich von der polemischen Schreibe seines Kollegen distanzierte. Interessant ist es allemal, dass ein solch schriller Text im renommierten Tagesanzeiger erscheinen konnte. In neoliberalen Milieus wird der Teufel des Bankrotts des Rentensystems schon längst an die Wand gemalt und in der Politik wird von neoliberalen Vertretern seit Jahren Demagogie mit der Demografie betrieben. Das Argument lautet, das Verhältnis der Erwerbstätigen zu den RentnerInnen, der sogenannte Altersquotient, verschlechtere sich, was zu einer erheblichen Unterfinanzierung hin bis zum Bankrott der Altersrenten führe. Es heisst dann, dass in etwa 30 Jahren nur noch 2,2 erwerbstätige Personen auf eine Rentnerin komme gegenüber heute, wo es immerhin noch vier Personen seien. Das macht Eindruck!

Das Denknetzwerk, eine sozialkritische Diskussionsplattform von Leuten aus Forschung und Lehre, NGO, Gewerkschaften und Bewegungen hingegen weist nach, dass in historischer Perspektive das Verhältnis der Personen im erwerbsfähigen Alter zu den Personen mit Unterstützungsbedarf – Kinder, Betagte, Behinderte – noch nie so günstig war wie heute. Gründe dafür sind, dass die Zahl der Kinder deutlich abgenommen hat, dass die Produktivität der Erwerbstätigen in den letzten 50 Jahren in einem noch nie gekannten Masse gestiegen ist und dass Lücken bei der Erwerbsbevölkerung durch die Einwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland aufgefangen werden. Deshalb schätzt das Denknetz die demographischen Voraussetzungen so ein, dass sich die Zunahme von RentnerInnen gut bewältigen lasse. Massgebend für die Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme sei nämlich nicht der Altersquotient, sondern der so genannte Gesamtlastquotient. Dieser drückt das Verhältnis der Summe aller Nichterwerbstätigen gegenüber den Erwerbstätigen aus, unter Einbezug von Kindern, RentnerInnen und Erwerbslosen. Diese lag zu Beginn des letzten Jahrhunderts bei rund 90% und sank dann kontinuierlich auf heute 68% ab. Dies sei laut Denknetz im historischen Vergleich ein ausserordentlich tiefer Wert.

Es kommt also extrem darauf an, mit welcher Perspektive man die Probleme rund ums Älterwerden der Gesellschaft anschaut und je nach dem sind denn auch die Lösungsvorschläge ganz unterschiedlich: während die neoliberale Seite das Rentenalter der Frauen erhöhen, die Renten kürzen und die Pensionskassen deregulieren will, macht das Denknetz Vorschläge in Richtung einer solidarisch finanzierten, einheitlichen BVG-Solidaritätsrente ab dem 85. Altersjahr vor. Sie soll im Umlageverfahren durch paritätische Lohnbeiträge sowie aus freien Mitteln der Pensionskassen finanziert werden. Mit dem heutigen Pensionskassensystem werden nämlich die Einkommens- und Vermögensgegensätze im Alter nicht verringert, sondern verschärft, und die Zweite Säule ist wegen Inflation, Finanzmarkt- und Liegenschaftskrisen nicht in der Lage, sichere Renten zu garantieren. Da besteht also grosser Handlungsbedarf und ein grundsätzliches Überdenken des Kapitaldeckungsverfahrens tut Not.

Diese Debatten zu führen ist auf jeden Fall spannender und hilfreicher als die Generationen gegeneinander auszuspielen.

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