Sozialalmanach 2015

| erschienen im Caritas-Sozialalmanach 2015

Für Menschenrechte gilt links und rechts nicht

Sozialalmanach 2015 – Das Caritas-Jahrbuch zur sozialen Lage der Schweiz (Schwerpunkt: Herein. Alle(s) für die Zuwanderung) ist zu beziehen unter www.caritas.ch/shop

Immer wieder wurde ich gefragt, warum ich mich politisch so intensiv und unermüdlich für die sogenannte «Ausländerfrage» starkmachen würde. Ich könnte es doch einfacher haben, als mich in diesem umstrittenen und ungeliebten Politikfeld zu bewegen und damit all den Hass und die Ablehnung auf mich zu ziehen. Dieser Ratschlag kam von Leuten, die sich um mich sorgten, weil sie wussten, dass mein Briefkasten von Hassmails überquoll, wenn ich wieder einmal gegen einen ausländerfeindlichen Vorstoss Stellung genommen hatte. Das war häufig der Fall, als ich noch aktiv in der Schweizer Politik und als Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) tätig war.

Ich selber habe mir die Frage so gar nie gestellt. Ich habe auch nie eine bewusste Wahl getroffen, mich schwerpunktmässig mit der Ausländerfrage zu beschäftigen. Mein Engagement hat sich ergeben, es hat einerseits biografische Gründe, und andererseits hat es mit meinem Menschenbild zu tun, das von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen ausgeht.

Die Anleitung zum gerechten Umgang mit andern kommt auch im berühmt gewordenen Satz von Kant, der als kategorischer Imperativ Geschichte gemacht hat, zum Ausdruck: «Was du nicht willst, dass man dir antut, dass füge auch keinem andern zu.» Die Testfrage, ob ich so behandelt werden möchte, wie wir das als Parlamentsmitglieder für andere Personen politisch beschlossen, habe ich mir bei jedem Entscheid gestellt und sie war mir eine wichtige Leitschnur für mein politisches Handeln.

Polarisierung der Politik

Wir waren wenige, die sich um die schwierige «Ausländerfrage» kümmerten. Ich war eine von ihnen; deshalb wurde ich von den Medien häufig um eine Stellungnahme angefragt. So entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck, ich würde mich praktisch ausschliesslich um die Ausländer- und Migrationspolitik kümmern. Da ich oft gegen die aggressiv auftretende fremdenfeindliche Rechte Stellung bezog, wurde ich so etwas wie deren Kontrahentin. So stand ich dann oft in der «Arena» der fremdenfeindlichen Schweiz gegenüber. Beruflich beschäftigte ich mich damals mit der schulischen Integration von Kindern eingewanderter Eltern. Statt über deren real existierende Probleme in der Schweizer Gesellschaft reden und taugliche Lösungen debattieren zu können, wurde in der veröffentlichten Meinung pauschal Stimmung gegen die Ein­ gewanderten gemacht. Damit wurde eine fruchtbare Debatte verunmöglicht und die Migrationsfrage verkam zu einem Rekrutierungsfeld der Schweizer Volkspartei. Es fiel mir auf, dass ich es in der alltäglichen Integrationsarbeit meistens mit differenzierten Menschen zu tun hatte, während die politischen Scharfmacher dort kaum anzutreffen waren. Denen begegnete ich dafür im Parlament und in der «Arena», die unter dem damaligen Moderator Filippo Leutenegger begonnen hatte, das Thema regelrecht hochzufahren.

Durch die zunehmende «Arenaisierung» der Politik reduzierten sich die politischen Fragen generell immer mehr auf den Gegensatz zwischen zwei Polen: Es gab immer mehr nur noch schwarz und weiss, rechts und links. In diesem Setting wird beim unpolitischen Betrachter der Eindruck erweckt, dass die Wahrheit irgendwo zwischen diesen beiden Polen liege. Aber gerade im Fall der Verteidigung der Menschenrechte gibt es nicht links und rechts. Sie bilden das Fundament des Rechtsstaates, auf dem die Demokratie aufbaut. Es gibt keine Demokratie ohne den Schutz der Menschenrechte und der Minderheiten. Sie bilden ein unzertrennliches Ganzes, und wer mit Volksinitiativen die Menschenrechte und den Schutz der Minderheiten auszuhebeln versucht, bedroht die Demokratie in ihren Grundfesten. Es ist ein seltsames Verständnis von Demokratie, wenn behauptet wird, dass alle Macht dem Volke gehöre und dass die Mehrheit immer Recht habe. Auch dem Stimmvolk sind Grenzen gesetzt, wo es um die Einhaltung von Völkerrecht und Verfassung geht. Die Debatte über die Relativierung oder gar Aufhebung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wirft ein schiefes Licht auf das Menschenbild der Befürworter solcher Vorstösse. Unliebsamen Menschengruppen wie Eingewanderten, Pädophilen, Muslimen und Personen, die schwere Straftaten begangen haben, werden bedenkenlos die Grundrechte beschnitten. Das ist eine unheilvolle Entwicklung.

Es braucht dringend alle vernünftigen poltischen Kräfte für die Einhaltung der Menschenrechte. Das gleiche gilt für den Rassismus: Man kann nicht ein bisschen dafür und ein bisschen dagegen sein, sondern in einer aufgeklärten und den Menschenrechten verpflichteten Gesellschaft gibt es nur eines: Der Rassismus muss bekämpft werden! Man kann ja mit ethisch einwandfreien Gründen für oder gegen die Umfahrung eines Dorfes oder die Erhöhung von Steuern sein, man kann aber nicht mit ethisch einwandfreien Gründen für den Rassismus sein! So viel sollten wir wenigstens aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt haben. Die Europäische Menschenrechtsdeklaration ( EMRK ) ist das Produkt dieses Lernprozesses. Sie zu relativieren oder gar abschaffen zu wollen, halte ich für eine fatale, kurzsichtige Entwicklung, denn die EMRK schützt die Rechte des Individuums und die Rechte der Minderheiten. Der demokratische Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er die Schwächsten schützt. Den Angriffen auf die EMRK muss deshalb energisch Einhalt geboten werden.

Ich möchte in dem Zusammenhang einen Text von Pastor Martin Niemöller, der das Konzentrationslager Dachau überlebt hat, zitieren. Es ist ein Text, den ich vor vielen Jahren einmal gelesen und seither nie mehr vergessen habe: «Zuerst kamen sie, um die Sozialisten zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Sozialist. Dann kamen sie, um die Gewerkschafter zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Gewerkschafter. Dann kamen sie, um die Juden zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Jude. Dann kamen sie, um mich zu holen. Und es war niemand mehr da, der etwas hätte sagen können.»

Die Verfassung garantiert den Schutz vor Diskriminierungen Das Menschenbild der Gleichwertigkeit hält Artikel 8 der Bundesverfassung fest. Dieser lautet: «1 Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. 2 Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.»

Das heisst nichts anderes, als dass alle Menschen eine unantastbare Würde haben, dass alle Menschen, ohne Ansehen der Herkunft, des Geschlechts, der Religion und Sprache, der sozialen Stellung, gleichwertig sind. Das heisst, dass man auch einem kriminell gewordenen Asylsuchenden die Nothilfe nicht verweigern darf, auch wenn einem dieser persönlich noch so unsympathisch ist. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde drückt aus, dass man einem Menschen ein Minimum zum Überleben nicht vorenthalten darf, und zwar einfach aufgrund seines Menschseins. Das heisst auch, dass jeder kriminell gewordene Mensch ein Recht auf einen fairen Prozess haben und Ausschaffungen und lebenslange Verwahrungen verhältnismässig sein sollen. Das ist etwas vom Schwierigsten, das es in der Politik zu vermitteln gilt: Es geht nicht darum, ob mir jemand sympathisch ist oder nicht, ob er einheimischer oder ausländischer Herkunft ist, ob schwarz oder weiss, es geht darum, dass jeder Mensch verfassungsmässig garantierte Rechte hat. Und für die habe ich mich immer stark­ gemacht.

Alle demokratischen Rechtsstaaten gehen heute vom Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen aus. Das ist eine der ganz grossen Errungenschaften der Zivilisation, die sich in den Verfassungen und Grundgesetzen vieler Staaten niederschlägt, eben auch in unserer Bundesverfassung. Rassistische Diskriminierung jeder Art verletzt dieses Grundrecht auf Gleichwertigkeit. Deshalb darf die Bekämpfung des Rassismus nicht als Hobby irgendwelcher «Gutmenschen» abgetan werden, sondern ist eine wichtige Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates und des Bildungswesens.

Biografische Prägungen durch Familie und Religion

Wie viel mein Menschenbild mit meiner katholischen Sozialisation zu tun hat, kann ich nicht sagen. Aber auf jeden Fall lehrte mich die katholische Kirche, dass alle Menschen gleich seien und man seinen Nächsten lieben solle wie sich selbst. In der religiösen Unterweisung war mir mit Jesus ein Vorbild gegeben worden, der nicht auf der Seite der Habenden, sondern auf jener der Habenichtse gewesen war und der sich für all die Aussenseiterinnen, die Geächteten und Verstossenen der Gesellschaft starkgemacht hatte. Von diesem Jesus soll der Satz stammen, dass alles, was man dem geringsten seiner Brüder antue, man ihm antue.

Dass das schöne Worte waren, die nicht der Wirklichkeit entsprachen, hatte ich schon in der Schule gemerkt, wo Kinder armer Eltern von Lehrern verprügelt und ausgelacht wurden und ich mit diesen litt und mich dabei elend machtlos fühlte. Das heile Weltbild bekam die ersten Risse. Oder später, als die fremdenfeindliche Schwarzenbach-Initiative im Jahre 1970 zur Abstimmung kam, welche die Ausweisung von Hunderttausenden von Immigrantinnen und Immigranten bedeutet hätte. Ich erinnere mich daran, als ob es gestern gewesen wäre. Ich war als junge Lehrerin in einem Dorf im Entlebuch an meiner ersten Stelle tätig. Die Wogen des Abstimmungskampfes gingen hoch und fremdenfeindliche Argumente gab es zuhauf. Ich war schockiert, hörte solche scharfen Töne in dieser Härte zum ersten Mal. Ich war als Tochter einer italienischen Mutter in einer Familie aufgewachsen, in der es Fremdenfeindlichkeit nicht gab, und wenn es jemand wagte, über die Italiener herzuziehen, schritt meine Mutter energisch dagegen ein. Sie selber war in der Schweiz als Italienerkind miserabel behandelt worden, man hatte sie ausgegrenzt, ausgelacht und als «Tschingg» beschimpft. Davon erzählte sie uns. Ihre Geschichte hat bei mir viel ausgelöst und mein Menschenbild nachhaltig geprägt. Das Denken in Kategorien wie «weiss – schwarz» oder «einheimisch – ausländisch» ist mir dadurch immer fremd geblieben. Diesen Kompass habe ich mitbekommen und ich bin meiner Familie bis heute dankbar, dass ich eine Kindheit und Jugend in einem nicht fremdenfeindlichen Milieu erleben durfte. Das war für die damalige Zeit in einer ländlichen Gegend überhaupt nicht selbstverständlich.

Deshalb kam ich bei der Abstimmung zur Schwarzenbach-Initiative so richtig auf die Welt. Die Auseinandersetzung beschäftigte mich ausserordentlich intensiv und ich mischte mich heftig und häufig in die äusserst emotional geführten Debatten ein. Ich wusste genau Bescheid, worum es ging, litt und kämpfte mit. Dann kam der Abstimmungssonntag und ich durfte nicht mitentscheiden, da es noch kein Stimm- und Wahlrecht für Frauen gab. Die Erfahrung dieser Ungerechtigkeit hat mich stark sensibilisiert für Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft überhaupt, sodass ich mich in der etwas später entstandenen Neuen Frauenbewegung zu engagieren begann und mich seither gegen jegliche Formen von Diskriminierungen zur Wehr setze.

Umsetzung in der Politik

Mit der Arbeit in der Frauenbewegung und später in der Grünen Partei kam die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in Bezug auf die Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, zwischen Arm und Reich, zwischen Norden und Süden dazu, und so bekam mein Handeln ein politisches Fundament, das bis heute gilt und dazu geführt hat, dass ich mich gegen jegliche Formen von Diskriminierungen gewehrt habe und bis heute versuche, jenen eine Stimme zu geben, die gesellschaftlich am Rande stehen: Flüchtlingen, Sans-Papiers, Armen, Rechtlosen.

Diesem Engagement liegt das Menschenbild der Gleichwertigkeit und der Einzigartigkeit eines jeden Menschen zugrunde. Ich habe auch meine Rolle als Politikerin immer als Versuch verstanden, durch meine politische Arbeit der Utopie einer Welt näher zu kommen, in der dieses Menschenbild allgemeingültig ist, einer Welt, die gerecht ist und allen Menschen ein würdiges Leben ermöglicht. Ich sass dann in den Sitzungen im Bundeshaus selbstgefälligen Politikerinnen und Politikern gegenüber, die pauschalisierende Negativaussagen über ganze Gruppen von Menschen machten, die sie nicht kannten und von deren Schicksal sie keine Ahnung hatten. Das war oft kaum zum Aushalten! Sehr schwierig war es auch, wenn ich von Flüchtlingen angegangen wurde, die alle Instanzen durchlaufen hatten und sich voller Verzweiflung an mich wandten. Ob ich denn nichts für sie tun könne? Wenn ich ihnen sagen musste, dass meine Macht eine sehr begrenzte sei und ich auch keine Möglichkeit sehe, eine Ausschaffung zu verhindern, fühlte ich mich miserabel. In ganz wenigen Fällen gelang es, eine positive Lösung zu finden, aber diese Erfolgserlebnisse lassen sich an einer Hand abzählen.

Ich habe aber leider oft erlebt, dass Politikerinnen und Politiker, die dieses Menschenbild vertreten und politisch danach handeln, als «Gutmenschen» verunglimpft wurden. Eigentlich schlimm, dass dieser Begriff als Schimpfwort gilt. Darunter habe ich aber weniger gelitten als darunter, dass das Asylgesetz immer wieder verschärft wurde. Ich hielt mir jedes Mal vor Augen, was das für die Betroffenen bedeutete, noch höhere Hürden überwinden zu müssen, um sich im Asylverfahren Gehör zu verschaffen oder überhaupt zu einem solchen zugelassen zu werden. Ich habe auch viele Flüchtlinge und ihre Lebensgeschichten persönlich kennengelernt und verstand mich immer als eine Stellvertreterin und als Überbringerin ihrer Anliegen, weil ich ja eine mit allen Rechten aus­ gestattete Person war. Ganz im Gegensatz zu denen, die auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben als Flüchtlinge in die Schweiz kamen. Für viele von ihnen werden die Grenzen Europas zum Grab. Lampedusa ist ein Brennpunkt für die Schere zwischen Reich und Arm. Ich finde den Gedanken unerträglich, dass Tag für Tag junge Menschen aus dem globalen Süden auf der Suche nach einem besseren, menschenwürdigen Leben im Mittelmeer ertrinken und die Welt gleichgültig zuschaut, ja mitverantwortlich dafür ist, dass die Gefahren für die, die aus dem Elend ausbrechen und den Weg nach Europa unter die Füsse nehmen, durch Abschottung und Stacheldrähte immer grösser werden. Viele junge Menschen in Ländern des Südens haben von Geburt weg keine Chance auf ein menschenwürdiges Leben. Diesem Schicksal versuchen sie zu entfliehen. Was sie bei uns suchen, sind Perspektiven für ein Leben in Würde. Solange wir es nicht zustande bringen, weltweit gerechtere Verhältnisse zu schaffen, wird sich die Situation kaum ändern. In Lampedusa wird dieses verdrängte Kapitel sichtbar. Was ich nicht verstehen kann, ist, dass sich viele Leute hier bei uns nicht in deren Situation einfühlen können, dieser eklatante Mangel an Empathie! Es sind ja die veränderungswilligen, ehrgeizigen, innovativen Leute, die auf der Suche nach einem besseren Leben auswandern. Sie haben alle Eigenschaften, die bei uns hoch im Kurs sind, und hier will sie niemand. Herrschte in meinem Land Krieg und Elend, würde ich meine Zukunft auch woanders aufzubauen versuchen und würde mir auch ein Land aussuchen, dem es gut geht. Ich kann nicht verstehen, wie diese Menschen hier als Profiteure und Kriminelle verunglimpft werden. Dass man sie in irgendwelche abgeschottete Zentren bringt oder brutal zurückweist, ist ein Verbrechen an dieser jungen Generation, die das Pech hatte, am falschen Ort geboren worden oder in bürgerkriegsähnliche Zustände wie in Syrien geraten zu sein. Ich finde es beschämend, dass Asylsuchende generell als Gefahr dargestellt gegen die man sich sogar mit «Grillieren gegen Asylanten» glaubt wehren zu müssen. Das wirft ein schiefes Licht auf die tonangebenden Kräfte in solchen Orten, die, statt mit Klartext dem Einhalt zu gebieten, den menschenverachtenden Unsinn noch mitmachen!

Schlussgedanken

Ich habe mich also für Menschen eingesetzt, die über wenig Rechte verfügten. Aber eigentlich verstand ich es als meine Hauptaufgabe, deren rechtliche Situa­tion zu verbessern. Deswegen war ich Politikerin geworden. Ich bin überzeugt davon, dass es wichtig ist, Menschen mit Rechten auszustatten, damit sie sich selber wehren können, selber eine Stimme haben und weniger gefährdet sind, Opfer von Diskriminierung zu werden. Sonst bleibt immer ein Machtgefälle bestehen, dem etwas Paternalistisches anhaftet. Mein Verständnis von Emanzipation ist ein empowerndes, das heisst, Menschen mit Recht und Ressourcen auszustatten, statt sie in Abhängigkeit und Armut zu belassen. Das ist eine viel nachhaltigere und emanzipatorischere Strategie.

Die Vorstellung, nichts gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt zu tun und nur für mich und mein privates Wohlergehen zu schauen, wäre mir unerträglich. Womit wir bei Kant und seinem kategorischen Imperativ wären. Und bei der grossen ungelösten philosophischen Frage, warum die einen in eine Welt hineingeboren werden, die ihnen alle Möglichkeiten bietet, ein gutes Leben zu haben, und warum die anderen in einem Slum einer der Megametropolen des globalen Südens von Anfang an ohne jede Chance sind. Ich habe darauf nur eine individuelle Antwort: Als weisse Mittelstandsfrau, als die ich ohne mein Zutun privilegiert bin, möchte ich durch mein Engagement dazu beitragen, dass sich die Verhältnisse verändern, dass es denen, die nicht per Geburt zu den Privilegierten gehören, besser geht. Es ist zwar nur der berühmte Tropfen auf den heissen Stein, aber viele Tropfen zusammen ergeben schliesslich auch ein Meer.

Diesen Hoffnungsschimmer lasse ich mir nicht nehmen, obwohl die reale politische Situation wenig Grund zu Hoffnung gibt. Die Saat der permanenten Verunglimpfung der «Fremden» ist aufgegangen, bis weit in die Mitte der Gesellschaft salonfähig geworden. Ob ich dieses Diskurses nicht überdrüssig geworden sei, werde ich immer wieder gefragt. Was steckt hinter dieser resignativen Frage? Doch nichts anderes als die Versuchung, aufzugeben, sich weg­ zuducken, den Mut nicht mehr zu haben, Widerstand zu leisten. Ja, diese Versuchung kommt manchmal. Aber ihr nachzugeben, hiesse sein eigenes Menschenbild zu verraten, sich im Spiegel nicht mehr anschauen zu können. Das ist doch nicht wirklich eine Wahl! Auch wenn den «Gutmenschen» wie mir heute der politische Wind heftig ins Gesicht bläst, gibt es keine Alternative zum Einstehen für seine Überzeugung.

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