Die Schweiz als vielsprachiges Land und was es davon zu lernen gäbe

| Sprachpolitisches Referat für die Xll. Internationale Tagung der Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer (lDT), 30. Juli bis 4. August 2001, Luzern

Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren

Ist es nicht wunderbar, Sie kommen aus allen Teilen der Welt, aus Usbekistan, Polen, Guatemala, und wir können uns miteinander verständigen, weil wir etwas Gemeinsames haben: Wir sprechen Deutsch. So vielfältig und bunt, wie Ihre nationale Herkunft, so spannend ist wahrscheinlich die Frage, wie Sie zu diesen Deutschkenntnissen gekommen sind. Machen wir doch gleich die Probe aufs Exempel:

  • Wer von Ihnen hat Deutsch als Erstsprache in der Familie gelernt?
  • Wer von Ihnen hat Deutsch gelernt, weil Sie sich in eine deutschsprachige Partnerin oder einen deutschsprachigen Partner verliebt haben?
  • Wer von Ihnen ist in einem deutschsprachigen Land aufgewachsen und unterrichtet heute Deutsch für Fremdsprachige?

Ich könnte noch weiter fragen, zum Beispiel: Wer von Ihnen hat Deutsch in der Schule und wer ausserhalb der Schule gelernt, wer hat Deutsch freiwillig gelernt und wer hatte gar keine andere Wahl? Und so weiter.

Eine nächste Fragestellung könnte lauten: Welches Deutsch haben Sie gelernt? Von Hamburg bis Brig und von Freiburg bis Wien wird ja etwas gesprochen, was als Deutsch bezeichnet wird. Obwohl zwischen einem Walliser und einer Hamburgerin und einer Freiburgerin und einem Wiener ohrenfällige Unterschiede bestehen. Also: Was haben Sie denn für ein Deutsch gelernt? Das Deutsch Deutschlands, Österreichs oder der Schweiz?

Sie sehen also: Es gibt nicht nur eine Mehrsprachigkeit "mit Deutsch", sondern auch eine Mehrsprachigkeit "im Deutschen", eine innere Mehrsprachigkeit. Doch ich will jetzt hier von der äusseren Mehrsprachigkeit sprechen, wie sie auch für die Schweiz typisch ist. In einem ersten Teil möchte ich Ihnen ein paar Fakten zur Sprachsituation in der Schweiz präsentieren. Im zweiten Teil werde ich auf zwei aktuelle sprachpolitische Auseinandersetzungen in diesem Land zu sprechen kommen, nämlich auf die Frage, ob zuerst eine Landessprache oder Englisch in der Schule gelernt werden soll, und auf die Frage, welchen Stellenwert die Migrantensprachen haben sollen, mit andern Worten, ob die Schweiz der Zukunft vier- oder vielsprachig sei. Am Schluss werde ich ein Plädoyer halten für die Mehrsprachigkeit.

1. Grundlagen

Meine Damen und Herren, Sie sind aus allen Teilen der Welt in die Schweiz gekommen und damit in ein Land, das sich offiziell als viersprachiges Land versteht und sich auch gerne im Ausland als solches anpreist. In unserer neuen Bundesverfassung, die auf den 1. Januar 2000 in Kraft getreten ist, heisst es ganz vorne, wo die Grundlagen unseres Staatswesens ausgebreitet werden, in Artikel 4 "Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch." Dieser Satz formuliert einen Grundpfeiler unseres Selbstverständnisses. Anders als andere Länder definiert sich die Schweiz nicht über eine Sprache und Kultur, sondern über deren vier. Die "Vielfalt in der Einheit zu leben", so heisst es in der Präambel der Verfassung in Anspielung auf ein Zitat von Gottfried Keller. Die "Vielfalt in der Einheit", das ist die Staatsidee, die mit dieser Viersprachigkeit verbunden ist.

Doch welche sprachliche Realität steht hinter dieser rechtlichen Konstruktion in der Verfassung? Jedenfalls eine sehr viel buntere und kompliziertere, als es dieser einfache Satz vermuten lässt. Ich nenne nur ein paar wichtige Punkte:

1.1 Grössenverhältnisse
Der Satz in der Verfassung sagt nichts über die quantitativen Verhältnisse unter den Sprachen aus: Von den Schweizer Staatsangehörigen sind etwa 73 Prozent deutscher Muttersprache, 20 Prozent französischer Muttersprache, 4 Prozent italienischer Muttersprache und nur gerade 0.7 Prozent rätoromanischer Muttersprache. Sie sind hier in Luzern im sprachlich ganz klar dominierenden Teil dieses Landes, in der deutschen Schweiz.

Deutsch, Französisch und Italienisch sind nicht nur Landessprachen, sie sind auch voll anerkannte Amtssprachen des Bundes; das Rätoromanische ist es nur für die Kommunikation zwischen den Rätoromanischsprachigen und dem Bund. Im nationalen Parlament sprechen alle ihre Sprachen. In Kommissionssitzungen gibt es keine Übersetzungen; es wird erwartet, dass jeder und jede die anderen Landessprachen passiv beherrscht. Nur in den Plenarsitzungen gibt es Simultanübersetzungen. Aber diese Idylle trügt. Es werden nicht alle Voten von allen Mitgliedern des Parlamentes verstanden, weil nicht alle über genügend Sprachkenntnisse der anderen im Land gesprochenen Sprachen verfügen. Das ist für die Minderheiten gravierender als für die Mehrheit der Deutschsprachigen, weil die Mehrheit der Voten auf Deutsch gehalten wird. Darum machen die Vertreterinnen und Vertreter der kleinen Minderheiten des Italienischen und des Rätoromanischen auch nur selten Gebrauch von diesem Recht.

1.2 Territoriale, nicht individuelle Mehrsprachigkeit
Wenn die Schweiz sich als viersprachiges Land bezeichnet, so ist damit eine territoriale Mehrsprachigkeit gemeint. Es stehen sich mehr oder weniger fein säuberlich getrennte Sprachterritorien gegenüber, die zugleich auch Territorien mit unterschiedlicher kultureller Prägung sind. Das zeigt sich ab und zu bei nationalen Abstimmungen, bei denen die Romandie anders entscheidet als die deutsche Schweiz und dabei als die Minorität unterliegt. Für dieses Phänomen haben wir in der Schweiz einen speziellen Namen: Röstigraben. Der Röstigraben zeigte sich zum Beispiel anlässlich der Volksabstimmung über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR (1992) und bei der Mutterschaftsversicherung (1999).

Die Sprachterritorien sind weitgehend einsprachig. Nur an den Sprachgrenzen gibt es einige wenige Städte und Gemeinden, die man effektiv als zweisprachige bezeichnen kann, und das rätoromanische Sprachgebiet ist praktisch mehrsprachig. Blickt man hingegen auf die Schweizer Bevölkerung, so muss man feststellen, dass diese ganz überwiegend einsprachig ist und nur mit sehr viel schulischem Aufwand und eher geringem Erfolg zu einer teilweisen individuellen Mehrsprachigkeit gebracht wird.

1.3 Angestammte versus neue Sprachen
Im Bild von der viersprachigen Schweiz kommt nur die so genannte angestammte Mehrsprachigkeit dieses Landes zum Ausdruck. Tatsächlich leben heute in der Schweiz rund 20 Prozent Ausländerinnen und Ausländer; die grosse Zahl kam als ArbeitsimmigrantInnen, der kleinere Teil als Flüchtlinge, und dieser Trend hält weiter an. Das sind 1,4 Millionen Personen ohne Schweizer Pass gegenüber 5.7 Millionen Schweizerinnen und Schweizern. Mit den Eingewanderten sind ganz viele neue Sprachen in dieses Land gekommen. So sprechen zum Beispiel heute mehr Leute in der Schweiz Albanisch oder Portugiesisch oder eine slawische Sprache als Rätoromanisch, zum Beispiel 200’000 Albanischsprachige gegenüber 40’000 Rätoromanischsprachigen. Auch diese neuen Sprachen machen heute den Sprachenreichtum der Schweiz aus. Und die Menschen, die diese neuen Sprachen in dieses Land bringen, sind – der Not gehorchend – oftmals wirklich mehrsprachig, was die Schweizerinnen und Schweizer oft gerade nicht sind.

1.4 Diglossie
1.4.1 Mediale Diglossie
In der Verfassung heisst es, Deutsch sei Landessprache, und wie gesagt ist Deutsch für etwa 73 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer die Muttersprache. Doch was für ein Deutsch? Vielleicht ist es Ihnen hier in Luzern schon aufgefallen, dass Sie zwar die Hinweisschilder im Bahnhof, die Plakate an den Wänden oder die Zeitungen an den Kiosken als deutschsprachige verstehen können, dass Sie aber die Menschen nicht verstehen, wenn sie miteinander sprechen – und ich meine damit jetzt nicht die vielen ausländischen Touristen, die sich zu dieser Jahreszeit gerne in Luzern aufhalten, sondern ich meine die Luzernerinnen und Luzerner. Das liegt daran, dass die Deutschschweizer, wenn sie sprechen, untereinander ausschliesslich schweizerdeutsche Dialekte sprechen: Berndeutsch, Zürichdeutsch, Luzerndeutsch. Alle Leute, vom Strassenkehrer bis zur Professorin, sprechen Mundart; diese ist nicht nur, wie in vielen anderen Gegenden der Welt, die Sprache des einfachen Volkes, sondern die Sprache aller Schichten. Auf der andern Seite wird Standarddeutsch geschrieben. Wir haben in der Deutschschweiz also die Situation einer medialen Diglossie: Dialekte zum Sprechen, Standardsprache für die Schriftlichkeit.

1.4.2 Ambivalentes Verhältnis der Deutschschweizer zur Standardsprache
Standarddeutsch sprechen die Deutschschweizer nur mit Leuten, die nicht Schweizerdeutsch sprechen. Im nationalen Parlament oder im nationalen Fernsehen – z. B. in Nachrichtensendungen – wird Standardsprache gesprochen. Eine Ausnahme bildet die Schule: Hier soll Standardsprache auch unter Deutschschweizern gesprochen werden, ganz einfach aus Übungszwecken, damit sie den Leuten ebenso gewandt zur Verfügung steht wie ihre Mundart. Dieses hehre Ziel wird aber kaum erreicht, und wir erleben seit einiger Zeit eine Mundartwelle, die ihren Ausdruck in der immer häufigeren Verwendung der Mundart auch in schriftlichen Texten junger Leute findet. Die Standardsprache wird als Gegenstück zur emotionalen Mundart schlecht gemacht, als Hindernis uneingeschränkter sprachlicher Entfaltung und Einschränkung diskreditiert. Ganz subtil wird diese Haltung auch von vielen Lehrpersonen mitgetragen, die immer dann, wenn es emotional wird, wenn es informell wird, von der Standard in die Mundart wechseln und damit diesen Zwiespalt laufend verewigen.

Viele DeutschschweizerInnen haben ein distanziertes Verhältnis zur Standardsprache, welches auch als "Schriftdeutsch" bezeichnet wird, weil es eben die Sprache der Schrift ist. Emotional ist das Standarddeutsche für viele eine Fremdsprache, obschon es das linguistisch nicht ist. Zudem haben Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprecher gegenüber ihren deutschen Sprachkolleginnen und -kollegen oft Minderwertigkeitsgefühle, weil sie, durch die Diglossie bedingt, weniger gewandt die deutsche Standardsprache sprechen. Das müsste gar nicht so sein: Die schweizerische Standardsprache unterscheidet sich im Wortschatz und in der Aussprache von der österreichischen und der deutschen Standardsprache – Sie hören jetzt von mir gerade diese Variante des Deutschen. Das ist nichts Minderwertiges, es ist etwas Eigenständiges, etwas anderes, es lässt sich beim Zuhören sofort feststellen: diese Referentin ist Schweizerin und nicht Deutsche oder Österreicherin. Da gibt es doch nichts zu verbergen, im Gegenteil, Sprache identifiziert Menschen, das gilt auch für DeutschweizerInnen. Übrigens gehe ich davon aus, dass Sie sich inzwischen bereits an meine Sprechweise gewöhnt haben.

Das schwierige Verhältnis der Deutschschweizer zu ihrer Standardsprache wirkt sich auf den Gebrauch derselben als Verkehrssprache mit Anderssprachigen in der Schweiz negativ aus. Und damit bin ich beim letzten Punkt meiner Situationsschilderung:

1.5 Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften
In unserer neuen Verfassung gibt es in Artikel 70 Absatz 3 folgende Bestimmung: "Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften." Diese Bestimmung wurde erst 1996 in die Verfassung aufgenommen. Offenbar gibt es da ein Problem: Die Verständigung unter den Sprachgemeinschaften scheint nicht gut zu klappen. Von Friedrich Dürrenmatt stammt ein viel zitierter Ausspruch, dass die Sprachen und Kulturen in der Schweiz ein Nebeneinander und kein wirkliches Miteinander darstellen. Die neue Verfassungsbestimmung will dem Gegensteuer geben, und wir sind zurzeit in der Schweiz daran, ein Sprachengesetz auszuarbeiten, das unter anderem die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften fördern soll. Das ist gar kein einfaches Unterfangen. Die Tatsache, dass es bis heute nicht gelungen ist, dieses Gesetz zu formulieren, hat mit der föderalistischen Struktur der Schweiz zu tun. Es geht um Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Kantonen und dem Bund und um die Frage, wie viel Einfluss dem Bund im Hoheitsbereich der Kantone bezüglich Sprachenfragen zugestanden wird.

2. Aktuelle sprachpolitische Debatten

2.1 Eine Landessprache oder Englisch?
Ich habe Ihnen jetzt einige Fakten zur Sprachensituation in der Schweiz präsentiert. Nun möchte ich auf zwei aktuelle sprachpolitische Debatten zu sprechen kommen.

Von aussen gesehen gilt die Schweiz ja wie gesagt als Musterland im Umgang mit ihrer Vielsprachigkeit. Es gab noch kaum einen Sprachenstreit vom Ausmass wie in anderen Ländern, in Belgien zum Beispiel oder in Kanada.

Das ist der Aussenblick; beim genaueren Hinsehen trügt diese Idylle. Auch in der Schweiz ist das sprachliche Miteinander nicht frei von Konflikten. Allerdings wurden diese bisher zivilisiert ausgetragen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, kein Geschenk des Himmels, daran muss immer wieder hart gearbeitet werden, und diese ist auch nicht für immer gegeben. Jede Generation ist neu aufgefordert, mit der Sprachenfrage sehr sorgfältig umzugehen.

2.1.1 Der aktuelle Streitpunkt
Nehmen wir gleich das neuste Beispiel. Es ist noch kein Jahr her, seit der Erziehungsdirektor, bzw. neuerdings Bildungsdirektor (so heisst hier der Kultusminister) des bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich mächtigsten Deutschschweizer Kantons Zürich angekündigt hat, dass in Zürcher Schulen nicht mehr als erste Fremdsprache unsere zweite Landessprache Französisch, sondern Englisch gelernt werde. Diese Ankündigung erschütterte den Sprachenfrieden in der Schweiz nachhaltig, und seither beherrscht diese Frage die sprachpolitische Diskussion. Der Zürcher Bildungsdirektor begründet seinen Entscheid damit, dass Englisch einfacher zu lernen sei als Französisch, dass es die Mehrheit der Kinder und Eltern so wollten und dass es den Bedürfnissen der Wirtschaft entspreche. Wenn die Volksschule Englisch als erste Fremdsprache nicht anbieten würde, spalte das die Gesellschaft in zwei Gruppen, in die Vermögenden, welche sich ihre Englischkenntnisse auf dem privaten Markt holen, und in die Anderen, die eben nicht Englisch lernen würden. Um diesen sozialen Graben nicht aufreissen zu lassen, sei die Volksschule gezwungen, Englisch früh und flächendeckend allen Kindern anzubieten. Diese Erklärung des Zürcher Bildungsdirektors löste heftige Reaktionen in den französischsprachigen Teilen der Schweiz und in den zweisprachigen Kantonen aus. Staatspolitisch interessierte Leute oder Leute, die mehr auf der nationalen Ebene politisieren und deshalb eine gesamtschweizerische Perspektive auf die Sprachenfrage haben, werfen dem Zürcher Bildungsdirektor vor, das Argument des sozialen Grabens nur als Vorwand zu benutzen und die heikle Sprachenfrage utilitaristischen, ökonomischen Interessen zu opfern. Schon mit dem Festlegen der Prioritäten, also "English first" werde ein sprachpolitisch fatales Signal gesetzt und der nationale Zusammenhalt gefährdet.

Diese Debatte dauert zurzeit an, und eine Einigung ist weit und breit nicht in Sicht. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, die zu dieser Frage einen 2/3 Mehrheitsbeschluss hätte fassen müssen, hat sich in eine Pattsituation hineinmanövriert: Der Kanton Zürich und die Ostschweizer Kantone werden zusammen mit der Zentralschweiz, also auch Luzern, in den nächsten Jahren Frühenglisch einführen und erst an zweiter Stelle das Französische. Bern, Basel und Solothurn werden weiterhin als erstes Französisch und die Romandie wird weiterhin Deutsch als erste Fremdsprache unterrichten. Damit öffnet sich neben dem Röstigraben, von dem ich Ihnen erzählt habe, ein neuer Sprachgraben in der Schweiz – vielleicht geht er einmal als Big Mac-Graben in die Geschichte ein.

2.1.2 Die politischen Folgen
Das Problem ist politisch noch nicht ausgestanden. Die Motion eines Vertreters der Romandie im nationalen Parlament, welche das Erlernen einer Landessprache als erste Fremdsprache in die Verfassung schreiben möchte, wurde von einer Mehrheit der grossen Kammer, vom Nationalrat, angenommen. Folgt die zweite Kammer, der Ständerat, dieser Idee, dann werden wir wahrscheinlich im nächsten Jahr darüber eine Volksabstimmung in der Schweiz haben, bei der die sprachpolitischen Emotionen hoch gehen werden. Interessant ist, dass erst über die Frage des Englischen eine grosse Debatte über unsere nationale Sprachenpolitik geführt wird.

Was die Entscheidung für Frühenglisch vor Frühfranzösisch in vielen Deutschschweizer Kantonen langfristig für den nationalen Zusammenhalt für Konsequenzen haben wird, ist vorläufig Spekulation. Ich persönlich teile die Bedenken derer, die sagen, dass damit der Beginn einer Entfremdung zwischen den Sprachgemeinschaften eingeleitet wurde, die sich möglicherweise zu grösseren Sprachkonflikten ausweiten kann. Oder anders gesagt, die sprachlichen Minderheiten in der Schweiz, die Romands und die Tessiner werden ihre Anerkennung, die sie durch die Zurücksetzung ihrer Sprachen durch die Deutschschweizer Mehrheit erfahren, auf andere Weise einfordern: Mit vermehrten Subventionen ihrer Landesteile, mit der Vergabe wichtiger nationaler Funktionen an Vertreter ihrer Sprachen usw.

2.1.3 Die ambivalente Haltung der Romandie
Interessant in dieser Frage ist die Haltung der Romandie. Offiziell war die Empörung über das Zürcher Vorprellen Richtung Englisch sehr gross, hinter vorgehaltener Hand hörte man aber auch Stimmen, die sich gar nicht unglücklich darüber äusserten, dem ungeliebten Deutsch durch das Ausweichen aufs Englische entfliehen zu können. Man muss wissen, dass die Liebe der Romands zum Deutschen keine Herzensangelegenheit ist. Im Kontakt mit Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern türmen sich für sie grosse Probleme auf. Das in der Schule mühsam erlernte Deutsch wird – ich habe es oben gesagt – nämlich von den Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern gar nicht gesprochen. Und so erleben frustrierte Romands, wenn sie ihre schulisch erlernten Deutschkenntnisse in der Deutschschweiz anwenden wollen, dass ihnen immer wieder auf Mundart geantwortet wird. Das hat mit der oben erwähnten Diglossiesituation zu tun.

2.1.4 Warum Englisch nicht die Lösung sein kann Es gibt Vertreter beider Landesteile, die sich durchaus vorstellen könnten, statt mühsam miteinander Französisch und Deutsch zu sprechen, wie ich es bezogen aufs Parlament geschildert habe, sich auf Englisch zu verständigen. Für sie ist die Vorstellung, dass dereinst im Schweizerischen Nationalrat Englisch miteinander gesprochen würde, keine Schreckensvision. Sie finden, mit dem Englischen, das man sowieso zur internationalen Verständigung lernen müsse, auch noch gleich die Frage der binnennationalen Verständigung lösen zu können. Dieses mechanistische Verständnis von sprachlicher Verständigung ist ein fataler Kurzschluss. Wir würden uns zwar auf Englisch verständigen, wir würden uns aber dabei immer weniger verstehen. Sprache ist mehr als das Aneinanderreihen von Wörtern. Mit Sprache werden Denkweisen, wird die Sicht der Welt ausgedrückt. Sprachen sind Universen, Kulturen. Das erleben alle diejenigen, die nach den ersten Sprachlektionen in einer neuen Sprache etwas tiefer in die neue Welt vorzudringen versuchen. Da genügen oft Wörterbücher nicht mehr, da kann nur noch sinngemäss begriffen werden, was mit einer sprachlichen Formulierung gemeint ist. Es sind die Konnotationen, das Mitgemeinte, das Sprache lebendig und spannend macht. Es ist genau das, was der Computer nicht kann und was deshalb Übersetzungsprogramme an Computern holprig, ja geradezu unbrauchbar macht.

Deshalb ist es für mich klar, dass die Perspektive, dass wir uns in der Schweiz einmal auf Englisch miteinander verständigen würden, der Anfang vom Ende der mehrsprachigen Schweiz bedeuten würde. Wir sollten vielmehr das Gegenteil tun: Wir sollten einander viel mehr aufs Maul schauen, in die anderen Landesteile reisen und leben gehen, Kontakte pflegen, Schüler- und vor allem auch Lehrpersonenaustausche organisieren, miteinander sprechen, einander sagen, wo wir unterschiedlicher und wo wir gleicher Meinung sind, wir sollten ganz viel ins Sprachenlernen investieren. Und wir sollten selbstverständlich alle auch Englisch lernen. Nichts gegen Englisch. Diese Sprache hat sich als internationale Verständigungssprache absolut durchgesetzt. Dieser Prozess ist unumkehrbar, und im Prinzip habe ich dagegen auch gar nichts einzuwenden. In einer globalisierten Welt braucht es das, und dass es nicht die Kunstsprache Esperanto sein kann, ist naheliegend, weil Sprachen lebendige Gebilde sind, die sich weiterentwickeln und verändern und die man nicht auf einem Reissbrett entwerfen kann.

2.2 Migrantensprachen
Eine von der Öffentlichkeit weit weniger beachtete Debatte dreht sich um die Frage, welchen Stellenwert zukünftig die Migrantensprachen haben sollen. Sie fristen in der offiziellen Sprachenpolitik ein Mauerblümchendasein. Dass es auch anders gehen würde, hat die Expertengruppe unter der Leitung von Professor Georges Lüdi von der Universität Basel vorgedacht, im so genannten "Gesamtsprachenkonzept" (siehe Handout). Darin wird unter anderem die These formuliert (These 4): "Die Kantone respektieren und fördern die in ihrer Schulbevölkerung vorhandenen Sprachen und integrieren sie in die Stundentafeln und Lehrpläne." Damit hätten die Migrantensprachen aus ihrem bisherigen Ghettodasein herausgeholt und als Bestandteil der in der Schweiz existierenden Sprachen gefördert werden sollen. Leider ist daraus praktisch nichts geworden. Aus Angst vor den finanziellen Folgen wurde diese These massiv abgeschwächt zu einer unverbindlichen Absichtserklärung.

Die Wissenschaft weist seit Jahren nach, dass sich eine Zweitsprache auf der Grundlage einer intakten Erstsprache besser entwickeln kann als ohne diese und dass schulsprachliche Kompetenzen in dieser Erstsprache eine grosse Bedeutung haben für schulische Grundfertigkeiten und für die Ausbildung einer stabilen bilingualen Identität und für das damit verbundene Selbstbewusstsein. Weil die Schweizer Schule die Erstsprache der Migrantenkinder fast völlig ignoriert, ist sie auch mitverantwortlich für deren niedriges sprachliches Selbstvertrauen und deren niedrige Kompetenz in der Zweitsprache.

Ein zweiter Grund für den Misserfolg ist der im Verlauf der schulischen Karriere alltäglich stattfindende Selektionsprozess mit der alleinigen Gewichtung einer schweizerischen Landessprache und somit einer Zweitsprache. Mit der Abschwächung der genannten These 4 des Gesamtsprachenkonzepts durch die Schulbehörden der Kantone haben diese zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht willens sind, die nötigen finanziellen Ressourcen bereitzustellen und den weit verbreiteten Schulmisserfolg von Migrantenkindern mit den entsprechenden schulpolitischen Massnahmen wirksam zu bekämpfen. Der Schaden, der durch die Ablehnung der These 4 entsteht, ist somit ein doppelter. Einerseits wächst so ein Viertel der heutigen Schülerschaft in Schweizer Schulen mit geringeren Bildungschancen heran und startet mit einem Handicap in die immer anspruchsvollere Arbeitswelt. Andererseits gehen mit dem in der Migrationsbevölkerung vorhandenen ungenutzten Sprachenpotenzial der Schweizer Gesellschaft und Wirtschaft wichtige Ressourcen verloren.

3. Sprachen sind Welten – Plädoyer für die Mehrsprachigkeit

Lassen Sie mich zum Schluss ein Plädoyer abgeben für die Mehrsprachigkeit. Ganz im Sinne des Mottos dieser internationalen Tagung: "Mehr Sprache – mehrsprachig – mit Deutsch."

Sprachen sind ein Reichtum, von dem man nie genug bekommen und den einem niemand wegnehmen kann. Mit jeder neuen Sprache eröffnen sich neue Türen in bisher verschlossene Welten, ergeben sich neue Einblicke, erweitert sich der Horizont. Armer monolingualer Mensch, kann ich da nur sagen!

Deshalb plädiere ich für eine Perspektive der individuellen Mehrsprachigkeit, ganz im Sinne des vorhin erwähnten Gesamtsprachenkonzepts. Es postuliert, dass die Landessprachen und Englisch gelernt werden sollen und dass möglichst früh mit dem Lernen einer zweiten und einer dritten Sprache begonnen werden soll. Auch zur Methodenfrage kommen intelligente Vorschläge:

  • Eveil aux langages, Language awareness
  • Immersion und zweisprachiger Unterricht

Auch die Idee, dass Sprachen primär Mittel zur Kommunikation in einer venetzten Welt sind und nicht der Selektion dienende Fächer, ist ausserordentlich wohltuend. Das sage ich als Vertreterin jener Generation von Lernenden, denen der Perfektionsanspruch in unserem damals erlebten Sprachunterricht Sprachenlernen eher zum Verleiden gebracht als zum Weiterlernen animiert hat. Ebenfalls überzeugend ist die Idee, dass jede Person ihre sprachliche Biografie in einem Sprachenportfolio dokumentiert und dass damit die verschiedenen Sprachkenntnisse als wichtiger Teil ihrer Kompetenzen gewichtet werden.

Dass die Umsetzung eines solchen Konzeptes nicht reibungslos verläuft und dass mit Sprachenfragen Emotionen hochgefahren werden können, zeigt das neueste Beispiel vom letzten Herbst im zweisprachigen Kanton Freiburg/Fribourg. Dort wurde die Einführung des zweisprachigen Unterrichts entlang der deutsch-französischen Sprachgrenze – wohl das Vernünftigste, was man tun kann – in einem hoch emotionalisierten Abstimmungskampf gebodigt, d. h. abgelehnt, in dem die Romands sämtliche Register gegen die angeblich drohende Germanisierung ihres Kantons zogen. Sie sind in ihrem Kanton zwar deutlich und unangefochten die Mehrheit, haben sich aber verhalten wie die Minderheit, und das ist ein Reflex auf ihren Minderheitenstatus, den sie auf der Landesebene haben. So kompliziert sind eben die Verhältnisse.

Weil Sprache und Identität so viel miteinander zu tun haben, wecken sie im Guten wie im Schlechten Emotionen. Dem kann nur begegnet werden, indem man vorurteilslos aufeinander zugeht, einander kennen lernt und an der sprachlichen Vielfalt teilnimmt. Interkulturelle Kompetenzen sind eine Schlüsselqualifikation für die globalisierte Welt; und wie denn eigenen wir uns solche Kompetenzen besser an als durch Sprachenlernen?

Es ist doch auch schön, dass wir uns an diesem Kongress auf internationaler Ebene miteinander verständigen können, und das ganz ohne Englisch! Ich fände es jedenfalls langweilig, wenn überall dort, wo verschiedensprachliche Menschen zusammenkommen, ausschliesslich Englisch gesprochen würde. Damit habe ich nichts gegen Englisch gesagt, aber viel für die Mehrsprachigkeit, eben "mehr Sprache – mehrsprachig – mit Deutsch".

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